Totalitarismus und Demokratie - aktuelles Heft: Jahrgang 21, 2024, Heft 2
Hannah Arendt in Lateinamerika / Hannah Arendt in Latin America
Einführung | Editorial Open Access
Aufsätze / Articles
Jardim, Eduardo:
Hannah Arendt and us (S. 167–178)
Der Beitrag untersucht die Rezeption der Werke Hannah Arendts in Brasilien mit Schwerpunkt auf dem akademisch-kulturellen Leben der 1980er-Jahre. Die Rezeption Arendts war von den spezifischen politischen Ereignissen in Brasilien und in der Welt geprägt. Brasilien befand sich in einem Prozess der politischen Öffnung. International erlebten wir die Auflösung des Ostblocks. Zwei Aspekte von Arendts Werken erfuhren zu diesem Zeitpunkt besondere Wertschätzung. Der erste betrifft die Entwicklung einer neuen politischen Theorie in „Vita activa“, der zweite das „Denken“ im Zusammenhang mit dem Leben des Geistes.
Dias, Thiago:
Arendt and the problem of disinformation (fake news) (S. 179–0)
Das Phänomen Desinformation wird in diesem Beitrag anhand jüngster Ereignisse erörtert, insbesondere der Wahl Trumps und des Brexits, in Verbindung mit dem Effekt der neuen Medien auf politisches Verhalten. Ausgehend von der erfolgreichen Wahlstrategie, die Bolsonaro 2018 zum Präsidenten machte, bringe ich dieses Phänomen mit dem Jahrhunderte alten Prozess in Verbindung, den Hannah Arendt Weltentfremdung nannte. Diese hat sich durch die neuen Kommunikationsformen vertieft, da Räume entstanden sind, in denen die Sichtbarkeit und Beständigkeit der Welt noch schwächer werden. WhatsApp gilt als das Instrument mit der am stärksten reduzierten Visibilität und zugleich als besonders effizientes Werkzeug, um in die innersten Gefühle der Menschen vorzudringen.
Fernandes, Pádua:
Hannah Arendt’s thought and the political resistance against the Brazilian military dictatorship (S. 193–214)
Dieser Artikel zeigt, wie Arendts Werk zur Legitimierung von Aktionen des politischen Widerstands gegen die Militärdiktatur in Brasilien (1964 bis 1985) verwendet wurde. Trotz des starken Einflusses marxistischen Denkens zitierten brasilianische und ausländische Aktivisten Arendt, um politische Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen zu kritisieren. Politische Widerstandsbewegungen beriefen sich auf Ideen wie: I) Reflexionen zur „Banalität des Bösen“; II) Bedeutung von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit als rechtliche Kategorien; III) die Achtung der faktischen Wahrheit. Analysiert wird auch, wie Arendt seit 2012 von Wahrheitskommissionen rezipiert wurde.
Spielmann, Ellen:
Hannah Arendt – a reception in Colombia: Setting the course for the first Peace Talk between the Guerrilla and the State (S. 215–228)
Der Artikel befasst sich mit dem besonderen Fall der Arendt-Rezeption in Kolumbien, wo Arendts politische Theorie in den Vordergrund rückte, es bis an die Spitze des Staates schaffte. Dies geschah durch den herausragenden kolumbianischen Intellektuellen Hernando Valencia Goelkel. Er ist seit 1967 der erste Leser, Übersetzer und Herausgeber Arendts in Kolumbien. „Reflexionen über die Gewalt“ (1969) wurde zum Schlüsseltext für die Analyse der Formen und Manifestationen von Gewalt in Kolumbien. Die Rezeption diente Valencia Goelkel, um sich als Berater des Präsidenten Betancur vorzubereiten. Während dessen Regierungszeit (1982–1986) fanden die ersten Friedensgespräche mit der Guerilla statt.
Di Pego, Anabella:
Readings and Uses of Arendt in Latin America: Milestones of her Reception in Argentina, Mexico, and Colombia (S. 229–246)
Der Beitrag untersucht die Arendt-Rezeption in Lateinamerika unter besonderer Berücksichtigung der wichtigen Stationen in Mexiko, Kolumbien und Argentinien. Ich befasse mich mit frühen Veröffentlichungen und Übersetzungen von Arendts Texten sowie mit ihrer Lektüre in Mexiko und Kolumbien durch progressive liberale Kräfte in den 1970er-Jahren. In Argentinien fand Arendt Anklang im linken (akademischen und militanten) Sektor. Ab den 1980er-Jahren gab es eine breite Rezeption von Arendts Denken, die ersten Bücher über Arendt wurden veröffentlicht. Ihr Denken wurde im Zusammenhang mit den Verbrechen der Militärdiktaturen und im Transitionsprozess zur Demokratie genutzt und neu angeeignet.
María Teresa Muñoz:
Weaving Arendtian Thought from Mexico: A Proposal Rooted in Arendt in Light of Sara Ahmed’s Feminism (S. 247–270)
Nach einer kurzen einleitenden Bemerkung über die Rezeption von Arendts Denken in Mexiko liefert der Artikel eine nicht-traditionelle Neuinterpretation von Arendts Ansichten über politische Urteile, die sich auf Sara Ahmeds Verständnis von Emotionen stützt. Wenn man sich Emotionen als soziale Beziehungen und nicht als innere Zustände vorstellt, ist es notwendig, Affekte eng an begriffliche Konzepte zu knüpfen. Folglich müssen die Urteile, die wir unter Verwendung dieser Konzepte formulieren, als konstitutiv affektiv angesehen werden. Diese These gilt es angesichts von Arendts konsequenter Haltung gegen die Einmischung von Affekten in die Politik zu diskutieren.
Ángeles Ma. Del Rosario Pérez Bernal:
Narration and Understanding in “Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil” by Hannah Arendt (S. 271–284)
Hannah Arendts Erzählweise in „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ hat den Charakter eines Akts des Verstehens, da sie eine Übung in diskursivem Widerstand ist. Sie konfiguriert eine schmerzhafte und unberechenbare Realität, öffnet Raum, um Bedeutung zu schaffen, die Ereignisse, auf die sie sich bezieht, neu zu bewerten. In diesem Beitrag wird Arendts Bericht anhand der von der Erzähltheorie und Hannah Arendt selbst vorgeschlagenen Ideen über die Kunst des Erzählens und den Erzähler analysiert.
Adriano Correia:
Obedience and evil: Eichmann and Kant “for the household use of the little man” (S. 285–301)
Eichmann pries den Gehorsam als Gipfel der Tugend und berief sich auf die Autonomie Kants, um seine unerschütterliche Treue zum NS-Regime zu rechtfertigen. Arendt erläutert, inwieweit Eichmann Kant und sein Konzept der Autonomie falsch interpretiert, und reflektiert grundsätzlich über die Relevanz einer Auslegung Kants für den Durchschnittsmenschen, wie Eichmann selbst es ausdrückte, um seinen Kadavergehorsam zu legitimieren. Der Beitrag untersucht die Problematik der praktischen Philosophie Kants, politischen Gehorsam mit moralischer Autonomie zu vereinbaren. Der „Kant’sche Eichmann“ ist ein paradigmatischer Fall für diese Problematik.
Buchbesprechungen / Book Reviews
Totalitarianism. A borderline idea in political philosophyStanford (Stanford University Press) 2024 / Autor: Simona Forti
Rezension: Frank Schale (S. 305–308) Talar und Hakenkreuz. Die Universitäten im Dritten Reich, München
München (C. H. Beck) 2024 / Autor: Michael Grüttner
Rezension: Maximilian Gasch (S. 309–311) Rechte Zeitverhältnisse. Eine soziologische Analyse von Endzeitvorstellungen im Rechtspopulismus
Frankfurt a.M. (campus Verlag) 2023 / Autor: Philipp Rhein
Rezension: Josephine Starke (S. 311–314) Hannah Arendt im Gepäck. Sieben Wege zum Politischen
Frankfurt a.M. (Wochenschau Verlag) 2024 / Autor: Karl-Heinz Breier
Rezension: Isabelle-Christine Panreck (S. 314–316) Hannah Arendt. Die Biografie
München (Piper Verlag) 2023 / Autor: Thomas Meyer
Rezension: Wolfgang Heuer (S. 316–318)
Nachrufe
Mike Schmeitzner:
Andreas Hilger (1967-2024) (S. 321-322)