„Diktaturforschung und Diktaturerfahrung in der Demokratie“: Tagungsbericht von Florian Schikowski
21/06/2018
Anlässlich seines 25-jährigen Jubiläums veranstaltete das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden eine Fachtagung zum Thema „Diktaturforschung und Diktaturerfahrung in der Demokratie“. Dabei standen weniger konkrete aktuelle Forschungsprojekte im Mittelpunkt; vielmehr ging es darum, ausgehend von den vergangenen 25 Jahren Totalitarismusforschung in Dresden, zukünftige Forschungsansätze und Perspektiven für das Institut und die Diktaturforschung zu diskutieren. Dementsprechend wählten die Veranstalter ein Format, das den interdisziplinären Austausch der Teilnehmer/innen (Historiker/innen und Politikwissenschaftler/innen) untereinander anregen sollte: In vier thematischen Panels hielt ein/e Teilnehmer/in ein fünfzehnminütiges Impulsreferat, worauf drei Teilnehmer/innen mit einem fünfminütigen Kommentar antworten durften. Anschließend wurden die Panels zur Diskussion geöffnet, sodass sich ein lebendiger Austausch entwickeln konnte.
LUTZ NIETHAMMERs (Friedrich-Schiller-Universität Jena) Keynote leitete die Tagung ein. In seinem durch seine persönlichen Erfahrungen aus Forschungsaufenthalten in der DDR geprägten Vortrag arbeitete sich Niethammer an der Pluralität und Ambivalenz des Totalitarismusbegriffs ab. Beispielhaft berichtete er von seinen Begegnungen mit der alternativen Kunstszene Geras in den 1980er Jahren, gegen die die Staatssicherheit Operative Vorgänge betrieb, die aber gleichzeitig für ihre künstlerische Arbeit mit SED-Kulturpreisen ausgezeichnet wurde. Laut Niethammer bekämpfte in diesem Fall der totalitäre Herrschaftsanspruch des „Schild und Schwerts der Partei“ die Kulturpolitik der SED – für ihn ein Beispiel dafür, wie der selbstständige und aufgedunsene Sicherheitsapparat selbst zum Untergang der DDR beigetragen habe. Diese „seltsame, fraktale Gespaltenheit“ zwischen Partei und Sicherheitsapparat zeige die Schwierigkeiten starrer Totalitarismustheorien für das Verständnis der DDR-Gesellschaft. Daran anschließend plädierte Niethammer für „Vielstimmigkeit“ in der Diktaturforschung; im Bewusstsein, dass politikwissenschaftliche Theoriebildung nur ein Teilaspekt der Forschung sein könne.
Passend zum Fazit der Keynote reflektierte das erste Panel verschiedene methodische und theoretische Zugänge zur Diktaturforschung. In seinem Impulsreferat umriss UWE BACKES (Hannah-Arendt-Institut Dresden) die Geschichte der Forschung zu Totalitarismus, Autokratien und Ideokratien und öffnete so einen Blick auf die bisherigen blinden Flecken dieser Forschungsrichtung: Bislang habe die Komparatistik zu viel über die Herrschaftsträger geforscht und dabei die Herrschaftslegitimation vernachlässigt. Um diese Lücke zu schließen, empfahl Backes die Alltagsgeschichte als einen Ansatz, der die Wechselwirkung zwischen Herrschaftssystem und sozialer Wirklichkeit erfassen könne, indem sie auch die „ungeschriebenen Regeln“ autoritärer Herrschaft ergründe.
Backes Statement für eine Öffnung der politikwissenschaftlichen Diktaturforschung für sozialgeschichtliche Perspektiven erfuhr einhellige Zustimmung von den drei Kommentator/innen. MARY FULBROOK (University College London) warf jedoch die Frage auf, ob der Totalitarismusbegriff überhaupt noch nötig sei, wenn die Diktaturforschung zukünftig verstärkt auf alltags- und sozialgeschichtliche Ansätze zurückgreife. Dem schloss sich RALPH JESSEN (Universität zu Köln) an und ergänzte, dass der Totalitarismusbegriff selbst zu historisieren sei, um dessen Bedeutung in geschichtspolitischen Debatten zu reflektieren. Gleichzeitig warb er dafür, im Sinne von Backes Vortrag Berührungspunkte zwischen politologischer und historischer Forschung auszubauen. SILKE SATJUKOW (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) forderte in diesem Zusammenhang transkulturelle Ansätze, die vergleichende Perspektiven darauf eröffneten, „was Diktaturen mit den Menschen“ machten. Anknüpfend an Fulbrooks und Jessens Kritik am Totalitarismusbegriff beschäftigte sich die anschließende, offene Diskussionsrunde hauptsächlich mit diesem und den verwandten Begriffen „Autokratie“ und „Ideokratie“. Dabei verlief die Konfliktlinie erwartungsgemäß zwischen den Politolog/innen, die die Typologien verteidigten, und den Historiker/innen. Gleichzeitig offenbarte sich in der Auseinandersetzung jedoch, dass auf dem Feld der Diktaturforschung beide Disziplinen Anknüpfungspunkte finden können, um sich zukünftig besser auszutauschen.
Das zweite Panel eröffnete eine internationale Perspektive auf Erinnerungskulturen und deren Bedeutung für die Aufarbeitung von Diktaturerfahrungen. In ihrem Impulsreferat setzte sich ULRIKE JUREIT (Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur) kritisch mit der deutschen Erinnerungskultur auseinander – vor allem mit der deutschen Selbstwahrnehmung als „Erinnerungsweltmeister“. Dabei diagnostizierte sie drei (immer auch problematische) Strömungen im „Memory Boom“: Erstens den Paradigmenwechsel von der Helden- zur Opfererinnerung, der implizit immer die Hoffnung auf „Erlösung“ durch Anteilnahme enthalte, zweitens die Erzeugung normativer Formen der Erinnerung, die zwar identitätsstiftend für heterogene Gesellschaften wirken könnten, jedoch Langeweile und Überdruss hervorriefen und drittens die Internationalisierung der Erinnerung, die durch globalen Tourismus den Eventcharakter des Erinnerns befördern könne. Die Kommentatorin EKATERINA MAKHOTINA (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn) teilte zwar Jureits Kritik an den problematischen Entwicklungen der Erinnerungskultur in Westeuropa, zeigte jedoch am Beispiel der Heldenerinnerung in Russland, dass diese Entwicklungen samt ihrer problematischen Auswüchse in anderen Gesellschaften immer noch wünschenswert im Vergleich zum Ist-Zustand seien. Gleichzeitig wies sie darauf hin, dass die Opferperspektive in Osteuropa viel schwieriger für erinnerungskulturelle Debatten nutzbar sei, da dort immer die Gefahr bestünde, Opfer des NS-Terrors gegen die Opfer stalinistischen Terrors auszuspielen. Dazu ergänzte MIKE SCHMEITZNER (Hannah-Arendt-Institut Dresden) die spezifische ostdeutsche Perspektive: In der sächsischen Gedenkstättenlandschaft bestehe zum Beispiel durch die doppelte Diktaturerfahrung die Gefahr einer Opferkonkurrenz – ähnlich wie von Makhotina in Russland beschrieben – die sich in politischen Debatten auch immer wieder offenbare. GUILLAUME MOURALIS (Centre Marc Bloch Berlin) plädierte ergänzend in seinem Kommentar für eine Distanz der kritischen zeithistorischen Forschung zu sozialen Formen des Erinnerns.
Die folgende Diskussionsrunde thematisierte das Spannungsverhältnis zwischen offizieller, staatlich organisierter oder gesteuerter Erinnerungskultur und dem privaten Erinnern innerhalb von Familien und kleinen sozialen Gruppen. Dieses Spannungsverhältnis sei ein Phänomen, das nicht nur in Diktaturen existiere, sondern beispielsweise im Hinblick auf die DDR-Vergangenheit der ostdeutschen Gesellschaft, auch in Demokratien wirke. Das Problem, dass durch das Internet auch sensible historische Themen zunehmend in Filterblasen – abgeschnitten von gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen – vermittelt würden, blieb als neue Herausforderung für Erinnerungskulturen am Ende des Panels offen.
Das dritte Panel lieferte globale Perspektiven auf die europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. YOU JAE LEE (Eberhard Karls Universität Tübingen) plädierte in seinem Impulsreferat dafür, die europäischen Diktaturen global und in ihren transnationalen Beziehungen zu erforschen. Nach Lee wirke die deutsche Diktaturforschung – gerade im Hinblick auf den Nationalsozialismus – oftmals wie eine „Nabelschau“. Besonders die lange populäre These vom „Sonderweg der Deutschen“ sei ein Indiz dafür. Als Beispiel für eine fruchtbare globale Forschungsperspektive brachte er die Analyse der ersten südkoreanische Regierung nach dem Koreakrieg an. Bei dieser ließen sich faschistische Einflüsse noch zu einem Zeitpunkt nachweisen, als der Faschismus in Europa bereits völlig diskreditiert gewesen sei.
In seinem Kommentar warf DIRK MOSES (University of Sydney) ein Schlaglicht auf Hannah Arendts ambivalente Einstellung zu Imperien: Für sie sei der Imperialismus zwar eine zentrale Grundlage für totalitäre Herrschaft gewesen, gleichzeitig äußerte sie sich jedoch bewundernd über den republikanischen, liberalen Geist der Siedlungsprojekte weißer Kolonisten in den USA und Australien. Für Moses war dies ein Indiz für den eurozentrischen Blick dieser Vordenkerin der Totalitarismusforschung. Auch JULIA SCHULZE WESSEL (Universität Leipzig) bezog sich in ihrem Kommentar auf die Namenspatronin der gastgebenden Institution: Anhand von Arendts Analyse der politischen Figur des Flüchtlings, der durch seine bloße Existenz die Nationalstaaten – ein westliches, ursprünglich europäisches Konzept – infrage stelle und so Akteurscharakter erhielte, würde sichtbar, wie das Konzept der Provinzialisierung dominante europäische Erzählungen angreifen könne. FRANK SCHUBERT (Universität Zürich) beleuchtete in seinem Kommentar das postkoloniale subsaharische Afrika. Dort spiele der Totalitarismusbegriff keine Rolle, da die Herrschaftsintensität in den postkolonialen Staaten dafür in der Regel zu gering gewesen sei (nicht jedoch die Gewaltintensität). Die zentralen problematischen Folgen des Kolonialismus in dieser Weltregion seien die Politisierung der Ethnizität (in Konkurrenz zu den neu entstandenen Nationen) und die zentrale Rolle der Militärs. Ein weiteres verheerendes Erbe kolonialer Herrschaft sei daraus entstanden, dass in den Kolonien die Kategorie „Rasse“ zum Leitkonzept wurde, diese Gesellschaften also von vornherein auf antidemokratischen Strukturen errichtet worden seien.
Aufgrund der sehr unterschiedlichen Impulse aus den Referaten faserte die Diskussion in diesem Panel schnell aus. So wurde beispielsweise befürchtet, dass postkoloniale Perspektiven in undemokratischen Gesellschaften geschichtspolitisch missbraucht werden könnten. Außerdem wurde unter anderem die Frage nach den Unterschieden zwischen sogenannten Entwicklungsdiktaturen und dem Elektrifizierungsprogramm Lenins in der Sowjetunion aufgeworfen. Außerdem kam die Forderung auf, für die Erforschung des Kolonialismus die vorkolonialen Gesellschaften und deren jeweiliges Erbe zu berücksichtigen.
Das abschließende vierte Panel richtete dann den Blick auf zukünftige Forschungsperspektiven. Die Teilnehmer/innen diskutierten die Bedeutung der Diktaturforschung für den Erhalt liberaler Demokratien. Das Impulsreferat von MICHAL KOPECEK (Institut für Zeitgeschichte, Prag/Imre Kertész Kolleg Jena) kritisierte die ehemals gängige Meinung, wonach Diktaturforschung grundsätzlich die Demokratiebildung unterstütze. Vielmehr gebe es aktuell ost- und mitteleuropäische Beispiele, in denen Diktaturforschung zur Schwächung liberaler demokratischer Strukturen verwendet würde. Außerdem zweifelte Kopecek die Bedeutung von 1989/90 als zentrale historische „Wasserscheide“ an: Möglicherweise sei der Umbruch nur der Auftakt zu einer sehr kurzen demokratischen Phase – ähnlich wie 1918/19 – gewesen, die nun von einer diktatorischen kapitalistischen Ordnung nach chinesischem Vorbild abgelöst werde. So sei laut Kopecek der entfesselte globale Kapitalismus womöglich aktuell die größte Herausforderung für demokratische Ordnungen.
Letzterem wiedersprach JULIANE FÜRST (University of Bristol) in ihrem Kommentar. Sie sehe eher den Nationalismus als Problem. Außerdem plädierte sie für ein politisches Selbstverständnis der Diktaturforschung: Die Forschung solle sich nicht zu stark von der Public History abgrenzen, stattdessen müsse sie der Öffentlichkeit Differenzierungen „zumuten“ und sogenannten Fake News entschieden entgegentreten. ELLEN BOS (Andrássy Universität Budapest) diagnostizierte der Wissenschaft bisher Schwierigkeiten, Übergangsformen zwischen Demokratie und Diktatur zu erfassen. Wenn, wie aktuell in Ungarn, die Exekutive immer mehr Macht erringe, gleichzeitig politische Gegner keine Konkurrenten mehr seien, sondern als Feinde und fremdgesteuerte Agenten gelten würden, fehlten laut Bos bisher die Analysewerkzeuge. Darum müsse wieder viel grundlegender über Demokratie geforscht werden. KONRAD JARAUSCH (University of North Carolina at Chapel Hill) stimmte dem zu und plädierte ausdrücklich für eine neue Demokratieforschung. Die Totalitarismusforschung habe zu lange nur vor Kommunismus und Faschismus gewarnt und darüber neue Herausforderungen für die Demokratie vernachlässigt. Außerdem wies er darauf hin, dass Demokratie eine Grundvoraussetzung für Wissenschaft sei. Dazu thematisierte Jarausch die Ähnlichkeiten des Populismus von Donald Trump in den USA und einigen Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa: Die „Mythologisierung der Geschichte“ sei immer wieder eine Strategie der Populisten – jenseits davon erkenne er bei diesen noch keine Ideologiebildung.
Die folgende Diskussionsrunde vertiefte die von Kopecek hervorgebrachte These der Herausforderung der Demokratie durch den entfesselten Kapitalismus und steckte konkretere Themenfelder ab, in denen eine neue, durch Diktaturforschung informierte Demokratieforschung ansetzen solle. So könnten anhand historischer regionaler Längsschnittstudien beispielsweise antidemokratische Traditionen erforscht werden. Gleichzeitig böten transnational gedachte Studien Perspektiven auf parallele und sich gegenseitig beeinflussende Entwicklungen über Grenzen hinweg. Forschung solle sich als gesellschaftlicher Seismograph verstehen, der Fehlentwicklungen frühzeitig erkennt und ihnen entgegensteuert.
Unmittelbar daran anknüpfend freute sich der Veranstalter der Tagung, THOMAS LINDENBERGER (Hannah-Arendt-Institut Dresden), in seinem Schlusswort zurecht über das nun „volle Aufgabenheft“ für die Zukunft des Instituts. Das besondere Format der Tagung ermöglichte eine Art internationales und interdisziplinäres Brainstorming über die Zukunft der Diktaturforschung. Diese liegt in einer an aktuellen Herausforderungen orientierten, über Diktaturen informierten Demokratieforschung. Mit den Impulsen aus der Jubiläumstagung wird das Hannah-Arendt-Institut diese Forschung auch in Zukunft leisten können.
Autor: Florian Schikowski, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, Abteilung 1 – Kommunismus und Gesellschaft
Der Tagungsbericht wurde am 28.7.2018 auf H-Soz-Kult veröffentlicht.
Konferenzübersicht:
Keynote
Lutz Niethammer (Friedrich-Schiller-Universität Jena): Imaginationen
von System und Erfahrung. Der Totalitarismus-Begriff nach dem Kalten Krieg
Panel 1: Diktaturen denken: Genealogien – Typologien –
Praktiken
Impulsreferat: Uwe Backes (Hannah-Arendt-Institut)
Kommentare: Ralph Jessen (Universität zu Köln) / Mary Fulbrook
(University College London) / Silke Satjukow
(Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)
Moderation: Günther Heydemann (Hannah-Arendt-Institut)
Panel II: Nach dem Memory Boom: Diktaturforschung und Geschichtspolitik in
transnationaler Perspektive
Ulrike Jureit (Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und
Kultur): Impulsreferat
Kommentare: Mike Schmeitzner (Hannah-Arendt-Institut) / Guillaume Mouralis
(Centre Marc Bloch Berlin) / Ekaterina Makhotina (Rheinische
Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn)
Moderation: Alfons Kenkmann (Universität Leipzig)
Panel III: Diktaturerfahrungen der ‚Provinz Europa‘: Im Blick
der Anderen
Impulsreferat: You Jae Lee (Eberhard Karls Universität Tübingen)
Kommentare: Dirk Moses (University of Sydney) / Julia Schulze Wessel
(Universität Leipzig) / Frank Schubert (Universität Zürich)
Moderation: Dagmar Ellerbrock (TU Dresden)
Panel IV: Autokratie, Populismus, ‚souveräne Demokratie‘:
Wohin mit der Totalitarismus- und Diktaturforschung?
Impulsreferat: Michal Kopecek (Institut für Zeitgeschichte, Prag /
Imre Kertész Kolleg Jena)