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Kolloquium im Sommersemester
Geschichte als Gesellschaftskritik – ist sie noch möglich?


11/04/2024 - 11:10 to 11/07/2024
HAIT und online via Zoom

Description of the event

Bis weit in den 1990er Jahre hinein war die öffentliche Benennung historischer Tatsachen – wenn es etwa um die Beteiligung an Verbrechen vergangener Diktaturen und deren Unterstützung durch konkrete Institutionen und Personen ging – zugleich ein Akt der Gesellschaftskritik. Historische Aufklärung war nicht nur ein Angriff auf den vorherrschenden Unwillen, sich mit der gesellschaftlichen Verantwortung für vergangenes Unrecht auseinanderzusetzen, es ging zugleich darum, daraus Konsequenzen für unser demokratisches Gemeinwesen einzufordern. Heutzutage hat der international vielbeachtete deutsche „Sonderweg“ der selbstkritischen Aufarbeitung seine politische Brisanz weitgehend eingebüßt. Stattdessen greift ein selbstgefälliger Stolz auf das Erreichte um sich. Die Akzeptanz von Verschwörungstheorien und „Fake News“ tut ein Übriges, um historische Evidenz ihrer aufklärerischen Kraft zu berauben. Damit erodiert das gemeinsame Grundverständnis „historischer Tatsachen“. Dazu trägt die Kommodifizierung historischen Erzählens in den Unterhaltungsmedien bei: Ihre Wirkungsweise als Unterhaltung durch Affirmation von Identitäten beruht wesentlich auf „künstlerischen Freiheiten“ im Umgang mit Tatsachen, und fügt sich in die mit der geschichtspolitisch gebotenen Privilegierung von mehrheitsfähigen Opferperspektiven ein, die „Erinnerung“ über „Geschichte“ stellt.

Die Frage steht: Kann Geschichte noch aufklären? Hat Geschichte als Gesellschaftskritik noch eine Zukunft?

Organisiert und moderiert von Prof. Dr. Thomas Lindenberger

© Hannah Höch (1889-1978), Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands, 1919, VG Bild-Kunst, Bonn 2024


Alle Termine

11. April 2024 | Prof. Dr. Peter Schöttler (FU Berlin)
Aktivismus oder Pathos der Nüchternheit?
Zum Verhältnis von Engagement und Objektivität
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Dürfen Historiker:innen sich politisch engagieren oder sollten sie sich, um objektiv zu sein, aus der Politik heraushalten oder wenigstens schweigen? Diese alte Grundsatzfrage, die schon Ranke beschäftigte, wird heute wieder aktuell. Ob in Bezug auf die Kriege in Osteuropa oder im Nahen Osten oder auf die Forderungen der ehemaligen „Kolonialvölker“ nach Entschädigung, schnell steht der Vorwurf im Raum, Wissenschaftler würden sich als „Aktivisten“ betätigen und zu stark Partei ergreifen. Dabei hat die schwierige Aufarbeitung der Shoah und des Archipel Gulag genau das ergeben: dass man bei großen politischen Verbrechen nicht einfach neutral bleiben kann.

25. April 2024 | Prof. i.R. Dr. Michael Wildt (HU Berlin)
Volk, Volksgemeinschaft, AfD
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Das Potsdamer Treffen von Rechtsextremen, darunter Mitgliedern der AfD und CDU, im November 2023, auf dem über die Entrechtung und Deportation von Menschen mit migrantischer Herkunft aus Deutschland, auch solche mit deutscher Staatsbürgerschaft, gesprochen wurde, hat zu Tage treten lassen, wie gewalttätig völkisches Denken ist. Doch sind in den Begriff Volk, auf dem auch jede Demokratie beruht, vielfältige Bedeutungen eingeschrieben, die bis hin zum Konzept einer rassistischen Volksgemeinschaft reichen können. Wer vom Volk spricht, darf sich dessen dunkler Dimension nicht entziehen. Um diese Fragen werden sich der Vortrag und die Diskussion im Kolloquium drehen.

16. Mai 2024 | Dr. Patrice Poutrus (Universität Osnabrück)
Zeitgenosse -
Zeithistoriker Zeitzeuge. Biografische Kontexte zum Erkenntnisinteresse in der umkämpften zeithistorischen Forschung zur DDR.
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Obwohl es nicht mein Plan war, blieb die Geschichte der DDR der wesentliche Teil meiner Forschungsarbeiten als Zeithistoriker. Ausgangspunkt waren immer wieder eine biografisch begründbare Unzufrieden mit den medialen und politischen Repräsentationen der jüngsten deutschen Geschichte des "anderen" Staates im Nachkriegsdeutschland. Dies führte mich zur Beschäftigung mit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Fleischkonsums in der DDR, zur Untersuchung des alltäglichen und institutionellen Umgangs mit Migrant_innen in der DDR, zum Schreiben einer Geschichte von Flucht- und Asyl im Nachkriegsdeutschland und im vereinten Deutschland und schließlich zur Aufzeichnung und Analyse von Lebenserinnerungen von Menschen in und aus Thüringen. Ich werde deshalb darlegen, dass meine Arbeit als Zeithistoriker nicht zu trennen ist von meinem persönlichen Erfahrungen als Ostdeutscher of Color, auch wenn beides nicht miteinander identisch ist, dass dies immer auch eine Kritik an der gesellschaftlichen Verfasstheit des vereinten Deutschlands war bzw. ist und schließlich, dass es mir dennoch nötig erscheint, zwischen biografischer Erinnerung, zeithistorischer Analyse und geschichtspolitischem Gedenken deutlich zu unterscheiden.

30. Mai 2024 | Prof. Dr. Nikita Dhawan (TU Dresden)
Subalternität: Die Geschichte einer Idee und die Idee der Geschichte
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In meinem Vortrag werde ich die Ansätze der Historiker:innen der südasiatischen Subaltern Studies skizzieren, die versuchten die Stimme der zum Schweigen gebrachten Gruppen wiederherzustellen, indem sie sich auf die "leisen Stimmen der Geschichte" konzentrierten (listening to the small voice of history). Diese Arbeiten werden mit Gayatri Chakravorty Spivaks Ausführungen kontrastiert, die wiederum die Grenzen des Projekts einer "Geschichte von unten" (history from below) aufzeigen. Eine der Schlüsselprobleme kritischer Gesellschaftstheorie ist die Frage, warum nichthegemoniale Gruppen ihrer eigenen Unterdrückung zustimmen. Auf Antonio Gramsci rekurrierend bietet Spivak einen aufschlussreichen Einblick in die ideologische Subjektkonstitution der Subalternen, die ihre eigene Unterwerfung als quasi unentrinnbares Schicksal annehmen. Es fehlt den Subalternen gewissermaßen das Verständnis ihrer selbst als Träger:innen politischer Rechte. Sie akzeptieren ihre politische und ökonomische Marginalisierung als normal und gerechtfertigt. Der Vortrag fragt nach den Beitrag, den die Geschichtsschreibung zu Prozessen der Dekolonisierung und Desubalternisierung leisten kann.

20. Juni 2024 | Prof. Dr. Melanie Arndt (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)
Transnationale Umwelt- und Katastrophengeschichte als Gegenwarts-Kritik
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Der Vortrag leuchtet das Potential der Umwelt- und Katastrophengeschichte aus, die Gegenwart kritisch zu hinterfragen. Er fragt danach, was es bedeutet, die Wechselwirkungen zwischen uns, den Menschen, und dem Rest der Natur ernst zu nehmen – sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart, noch dazu aus einer Perspektive, die nationale Rahmen zwar nicht negiert, aber weit darüber hinausgeht. Die Umweltgeschichte erlaubt es in ganz besonderem Maße, die Geschichte des Alltags mit globalen Phänomenen zu verbinden. Welche Rolle kann sie spielen, gegenwärtige Probleme nicht nur in ihrem historischen Gewordensein zu erklären, sondern auch zu deren Lösung beizutragen? Gleichzeitig reflektiert der Vortrag die Verbindung zwischen Umweltgeschichte und Katastrophen: Ist Umweltgeschichte immer auch Katastrophengeschichte? Braucht es Katastrophen, um transformative Kräfte in einer Gesellschaft freizusetzen? Der Vortrag will auch dazu anregen, darüber nachzudenken, wie wir Umwelt- und Katastrophengeschichte(n) erzählen.

4. Juli 2024 | Prof. Dr. Alfons Kenkmann (Universität Leipzig)
„Auf diese Weise kommt man also zu Aussagen, die plötzlich auftauchen und nicht vorgefasst und gefälscht sind.“ Zum Ort des Zeitzeugen in der (deutschen) Zeitgeschichte.
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Der Vortrag thematisiert die Hinwendung zu Zeitzeuginnen und Zeitzeugen als erfahrungsgeschichtliche Quellen in beiden Deutschlands seit 1945. Im Mittelpunkt stehen die Fragen: Wie kamen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in Wissenschaft und Unterricht und welche Bedeutung wird ihnen in Zukunft beikommen? Zur Beantwortung des Problemhorizonts werden zur Veranschaulichung auch historische Interviewauszüge herangezogen.

11. Juli 2024 | Prof. Dr. Stefanie Schüler-Springorum (TU Berlin)
Alles Zahlen oder was?
Ein Plädoyer für eine historisch grundierte Antisemitismusforschung
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Seit einigen Jahren lässt sich eine erstaunliche Entwicklung beobachten: Ein Phänomen, dessen Komplexität zum Kern des Gesellschaftsverständnissesder Kritischen Theorie gehört, wird zunehmend – in den Medien, aber auch in der Forschung – aufgelöst in Zahlen, an- und absteigende Linien und allerlei geometrische Figuren zu deren Visualisierung. In meinem Vortrag möchte ich der Frage nachgehen, inwieweit diese Verschiebung, die ja zugleich eine Vereindeutigung ist,auch etwas aussagt über ein grundsätzlich verändertes Verständnis von Antisemitismus. Dass hierfür ein historischer Blick vonnöten ist, versteht sich von selbst. Ob, und wenn ja, was dieser Blick beitragen kann zum gesellschaftskritischen Potenzial einer so verstandenen Geschichtswissenschaft, möchte ich an einigen Beispielen zur Diskussion stellen.

Das Kolloquium findet im Festsaal (TIL 205) und hybrid via Zoom statt. Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme und bitten um eine Anmeldung bis jeweils zum Montag vor der einzelnen Veranstaltung unter: hait@tu-dresden.de
Den Zugangslink erhalten Sie zeitnah vor der Veranstaltung.


Diese Maßnahme ist mitfinanziert durch Steuermittel auf Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushalts.



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VG Bild-Kunst, Bonn 2024