Fachsektion
54. Deutscher Historikertag: "Der Körper und die Krisen"
Referenten: Josefine Lucke, Prof. Dr. Mike Schmeitzner & Dr. Matthäus Wehowski
19.09.2023 - 14:00 Uhr
Leipzig
Beschreibung der Veranstaltung
Auf dem 54. Deutscher Historikertag referieren Josefine Lucke, Prof. Dr. Mike Schmeitzner und Dr. Matthäus Wehowski im Rahmen der von Prof. Dr. Mike Schmeitzner und Prof. Dr. Susanne Schötz geleiteten Sektion "Der Körper und die Krisen: Mediale (Re)Konstruktion der "Spanischen Grippe"".
Die Spanische Grippe stellt ein Phänomen dar, dessen Historizität in Anbetracht der aktuellen Covid-19-Pandemie wieder in den Vordergrund rückt. Im Unterschied zu heute brach die Spanische Grippe in einem Mitteleuropa aus, das mit außerordentlich schweren und verschiedenartigen Krisen – zusammengefasst: "multiplen" Krisen – zu kämpfen hatte. Krieg, Hunger, Mangel und der Zusammenbruch der Staatssysteme – all diese Ereignisse nahmen die Aufmerksamkeit der Akteure in Anspruch und erschütterten deren individuelle Prioritätensetzung. Die existentielle Bedrohung der gesamten Bevölkerung über soziale Schranken hinweg war ein Charakteristikum dieser Zeit, die ihren Kommunikationskanal in den sich spontan bildeten "Krisenkollektiven" fand. Diese durch die Krisen entstandenen flüchtigen Gemeinschaften strebten danach, die Grundbedürfnisse ihrer Mitglieder in einem begrenzten Zeitraum zu befriedigen und ihre Körpererfahrung im öffentlichen Raum neu zu definieren. Wie die Quellenlage zur Spanischen Grippe uns verdeutlicht, gehörte die Krankheit nicht zu den führenden Kommunikationsthemen der Zeitgenossen. Es hing von den einzelnen Kollektiven ab, wie die bekannten Fakten zur Krankheit kommuniziert wurden, wobei die verschiedenen Ansätze sich ausnahmslos auf der Basis "fragiler Fakten" bewegten. Das Augenmerk dieser Untersuchung zur Spanischen Grippe liegt auf der Krisen- sowie Körpererfahrung damaliger Akteure im städtischen Raum der sich auflösenden mitteleuropäischen Imperien, in dem sich die verschiedenen Krisenerscheinungen aufgrund der Bevölkerungskonzentration potenzierten. Unser Ziel ist es, mit diesem Zugang die allgegenwärtige fragile Faktenlage über die Spanische Grippe in Bezug auf die Erfahrungen verschiedener Kollektive und ihrer Akteure darzustellen.
Dr. Matthäus Wehowski
Zum "göttlichen Arzt im Himmel fliehen?" – Der gesundheitspolitische Diskurs im Teschener Schlesien und Ostgalizien zur Zeit der Spanischen Grippe
Das Teschener Schlesien und Ostgalizien gehörten zu den Peripherien des Habsburgerreichs und waren von starker Diversität in Fragen der nationalen Zugehörigkeit, der Konfession und der Sprache geprägt. Beide Regionen galten seit dem 19. Jahrhundert als Problemzonen der Gesundheitspolitik. Während des Ersten Weltkriegs stieg durch die Flucht der Zivilbevölkerung und den Durchmarsch der Armeen die Gefahr von Typhus, Cholera, Tuberkulose und anderen Seuchen weiter an. Als im Oktober 1918 der Zerfall des habsburgischen Staates einsetzte, suchte eine schwere Form der Spanischen Grippe die Region heim. Dieser Beitrag wird sich mit der Frage beschäftigen, wie die unterschiedlichen Krisenkollektive mit der Zuspitzung der Gesundheitskrise umgingen und wie sie diese kommunizierten. In den Peripherien trafen vormoderne Vorstellungen und die neuesten medizinischen Erkenntnisse aufeinander: Vom wissenschaftlichen Fachdiskurs bis zu Klagen über ein göttliches Strafgericht.
Josefine Lucke mit Filip Bláha (Prag)
"Kein Grund auf die Barrikaden zu gehen!" – Die Spanische Grippe und die Entstehung der Tschechoslowakei 1918
Die zweite Welle der Spanischen Grippe im Herbst 1918 erwies sich auch in den böhmischen Ländern als höchst virulent und tödlich. Die Bevölkerung schenkte der Pandemie bis zuletzt keine große Beachtung und sie wurde sehr rasch durch die bestehende Versorgungskrise sowie die tschechoslowakische Staatsgründung im Oktober 1918 aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Dieser Beitrag fokussiert darauf, wie verschiedene Krisenkollektive die Krankheit in Böhmen kommunizierten. Um die Fähigkeit der Krisenkollektive – in Anbetracht der Krankheit sowie der Staatsgründung – ihre Grundbedürfnisse zu kommunizieren, anschaulich darzustellen, wird neben dem Beispiel Prag noch die „Waffenschmiede der Monarchie“, Pilsen, fokussiert. Gerade die internationale Arbeiterschaft der Pilsner Škoda-Werke war zum Kriegsende ständig bemüht, ihren moralischen Anspruch auf die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse sogar mit Gewalt zu kommunizieren, wobei die Spanische Grippe dabei kaum eine Rolle spielte.
Prof.Dr. Mike Schmeitzner mit Hans-Martin Behrisch (Leipzig)
"Totengräber" der Monarchie? Die Spanische Grippe in Sachsen: Diskurse und Proteste im Herbst 1918
Das Königreich Sachsen zählte zu den größeren Flächenstaaten des Deutschen Kaiserreiches und galt als hochindustrialisiert. Das Land war – mit Ausnahme der sorbischen Minderheit – national und konfessionell homogen geprägt. Politisch standen sich eine konservative Exekutive und eine mehrheitlich sozialdemokratisch gefärbte Wählerschaft gegenüber. Vor 1914 gesundheitspolitisch durch eine hohe Mortalität infolge Lungentuberkulose gezeichnet, traf die zweite Welle der Spanischen Grippe das Land im Oktober 1918 hart. Landesexekutive und kommunale Entscheidungsträger versuchten mit unterschiedlichen Mitteln und auf verschiedenen Wegen die Pandemie einzudämmen. Der Beitrag fragt danach, welche Diskurse durch die Pandemie und die staatlichen Maßnahmen entfaltet wurden und welche Krisenkollektive hiergegen protestierten. War die Spanische Grippe der „Totengräber“ der Monarchie oder in der multiplen Krisenlage des Herbstes 1918 nur eine von vielen Herausforderungen?
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