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Gedächtnis und Gegenwart: Deutsche Erinnerungskultur und der aktuelle Nahost-Konflikt

15.05.2025

Am 15. Mai 2025 fand die Podiumsdiskussion „Gedächtnis und Gegenwart: Wie beeinflussen die Auseinandersetzungen um die deutsche Erinnerungskultur die Haltung gegenüber Israel, Palästina und dem Nahost-Konflikt?“ mit Saba-Nur Cheema (Goethe-Universität Frankfurt) und Meron Mendel (Bildungsstätte Anne Frank) im Deutschen Hygiene-Museum Dresden (DHMD) statt. Moderiert wurde die Veranstaltung von Paul Middelhoff (Die Zeit).

Die gemeinsam vom DHMD und dem HAIT ausgerichtete Diskussion blickte im Jahr des 80. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz-Birkenau und des Kriegsendes auf die gesellschaftliche Debatte um die Haltung und Rolle Deutschlands im Nahost-Konflikt.

Heute stellt Auschwitz als Symbol für die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie einen zentralen Bezugspunkt für die deutsche Erinnerungskultur dar. Daraus erwächst die Selbstverpflichtung, sich kritisch mit jeder Form von Antisemitismus auseinanderzusetzen. Die Debatte ist insbesondere von den Beiträgen über die Notwendigkeit einer „multidirektionalen Erinnerung“ (Rothberg, 2009), Jürgen Zimmerers „Von Windhuk nach Auschwitz?“ (Zimmerer, 2011) und dem „Katechismus der Deutschen“ (Moses, 2021) geprägt und wird teilweise als „Historikerstreit 2.0“ (Mendel, 2023b, S. 33) bezeichnet. Sie dreht sich um Fragen wie die nach der Erinnerung an Kolonialverbrechen und andere Genozide, um Kontinuitäten der Verbrechen und deren Stellenwert im Verhältnis zur Erinnerung an den Holocaust. Gleichzeitig weitet sich diese Debatte auf die Haltung der deutschen Gesellschaft und Politik gegenüber Israel, Palästina und dem Nahost-Konflikt aus, insbesondere seit dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 und dem anschließenden Krieg in Gaza.

Iris Edenheiser, Direktorin des DHMD, führte in das Podiumsgespräch an diesem Abend mit einer kurzen Darstellung der Konfliktfragen des „Historikerstreits 2.0“ (siehe auch Mendel, 2023a; Wagner, 2022) ein: Inwiefern beeinflussen die Debatten um die Erinnerungskultur die Haltung gegenüber Israel, Palästina und dem Nahostkonflikt? Wie sollten sie geführt werden, um der aktuellen Zunahme von Antisemitismus und Rassismus entgegenzuwirken? Welche Folgen haben die aktuellen Entwicklungen der israelischen Politik für die Selbstverpflichtung Deutschlands gegenüber Israels Sicherheit?

Im Anschluss sprach Saba-Nur Cheema über die Konfliktfelder der deutschen Erinnerungskultur. Es ging ihr darum zu hinterfragen, wer zum erinnernden Kollektiv gehört und woran erinnert wird. So würden Migranten nicht per se als Teil des Erinnerungskollektivs betrachtet. Gleichzeitig werde von ihnen aber eine aktive Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit gefordert. Hinsichtlich der Diskussion um eine „multidirektionale Erinnerung“ (Rothberg, 2009) sah Cheema keine Konkurrenz zwischen der Erinnerung an den Holocaust und an (Kolonial-)Verbrechen. Kollektive Erinnerung sei kein statisches Konstrukt, sondern werde stets gesellschaftlich und politisch neu verhandelt. So habe sich auch der Holocaust durch zivilgesellschaftliches Engagement zu einem Fixpunkt der Erinnerungskultur entwickelt. Gesellschaftliche Veränderungen wie die zunehmende Pluralität durch Migration führten auch zu Veränderungen des Gedenkens. Der US-amerikanische Holocaustforscher Michael Rothberg habe mit der „multidirektionalen Erinnerung“ weniger eine neue Praxis etabliert als einen Begriff bereitgestellt. Auch die Erinnerung an den Holocaust werde sich weiter verändern. Cheema plädierte dafür, die Erinnerung an die Shoah als Menschheitsgeschichte zu verstehen, die nicht allein durch die eigene Herkunft zugänglich sei.

Meron Mendel legte in seinem anschließenden Impuls zunächst das grundsätzliche Verhältnis zu Israel in der deutschen Politik und Gesellschaft seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges dar. Die Debatten über die Erinnerung an den Holocaust seien nach Kriegsende weniger als heute vom deutschen Verhältnis zu Israel geprägt gewesen. So habe die Bundesrepublik beispielsweise erst 1965 diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 vor der israelischen Knesset die Sicherheit Israels historisch begründet zur „deutschen Staatsräson“ erklärte, löste dies in Deutschland ein großes Echo aus. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich parteienübergreifend ein politischer Konsens zu dieser Selbstverpflichtung. Trotz gesellschaftlich und politisch tiefgreifender Änderungen und Regierungswechsel habe sich dieser Konsens seit 2008 gehalten. Hierin sah Mendel auch eine Erklärung für die Konflikte über die Erinnerungskultur. Die „Staatsräson“ sei weder gesetzlich verankert, noch gesellschaftlich allgemein akzeptiert. Mendel plädierte für deren Reform. Unter der aktuellen, in Teilen rechtsradikalen israelischen Regierung seien Perspektiven friedlicher Lösungen im Nahen Osten, insbesondere seit Beginn des Krieges 2023 mit dessen desaströsen humanitären Folgen, kaum vorstellbar. Es stelle sich die Frage, an welche Bedingungen die Selbstverpflichtung Deutschlands gegenüber Israel geknüpft sein sollte.

Im Anschluss an die beiden Impulse vertiefte Paul Middelhoff im Gespräch mit Cheema und Mendel die angesprochenen Themen. Der Abend endete mit Fragen aus dem Publikum an die Referierenden. Die Veranstaltung stieß auf großes Interesse. Etwa 200 Personen besuchten die Podiumsdiskussion.

 

Prof. Dr. Meron Mendel, Publizist, Historiker und Pädagoge, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, Frankfurt am Main, Autor u. a. Muslimisch-jüdisches Abendbrot. Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung. Kiepenheuer & Witsch, 2024 (zusammen mit Saba-Nur Cheema); Über Israel reden. Eine deutsche Debatte. Kiepenheuer & Witsch, 2023; Singularität im Plural. Kolonialismus, Holocaust und der zweite Historikerstreit. Beltz Juventa, 2023. Zusammen mit Saba-Nur Cheema initiierte und kuratierte er die Thementage „Reflexe und Reflektionen. Der 7. Oktober, der Gaza-Krieg und die Debatten in Deutschland“ 2024 an den Berliner Festspielen.

Saba-Nur Cheema, Politikwissenschaftlerin, Publizistin und Antirassismus-Trainerin, Frankfurt a.M.; Autorin/Herausgeberin u. a. von Muslimisch-jüdisches Abendbrot. Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung. Kiepenheuer & Witsch, 2024 (zusammen mit Meron Mendel); Frenemies. Antisemitismus, Rassismus und ihre Kritiker*innen. Verbrecher-Verlag 2022 (zusammen mit Meron Mendel und Sina Arnold)

Paul Middelhoff, stellv. Ressortleiter Politik, Die Zeit

 

Literatur:

Meron Mendel (Hg.), Singularität im Plural. Kolonialismus, Holocaust und der zweite Historikerstreit. Weinheim, 2023a. 

Meron Mendel, Über Israel reden. Eine deutsche Debatte, Köln 2023b.

A. Dirk Moses, Der Katechismus der Deutschen. In: Geschichte der Gegenwart vom 23.05.2021 (https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/ ; 06.06.2025).

Michael Rothberg, Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford University Press 2009.

Jens-Christian Wagner, Historikerstreit 2.0? Zur Debatte um das Wechselverhältnis zwischen Shoah- und Kolonialismus-Erinnerung. In: Stiftung Gedenkstätten (https://www.stiftung-gedenkstaetten.de/reflexionen/reflexionen-2022/historikerstreit-20- ; 06.06.2025).

Jürgen Zimmerer, Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Münster 2011.

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