Kriegsende im Osten
Die Rote Armee und die Besetzung Deutschlands östlich von Oder und Neiße 1944/45
Manfred Zeidler
Oldenbourg, München, 1996
ISBN 3-486-56187-1, 250 Seiten
Auf der Grundlage sowjetischer und deutscher Quellen untersucht der Autor Planung und Ablauf der militärischen Operationen der Roten Armee gegen das Reichsgebiet - von Ostpreußen bis Schlesien - im letzten Kriegshalbjahr. Einen Schwerpunkt bildet die Darstellung der politisch-psychologischen Schulung der Roten Armee und das Verhalten der Truppe beim Eindringen in Deutschland.
Deutsche und Russen blicken auf eine vielhundertjährige Beziehungsgeschichte zurück, die wie kaum die Geschichte zweier anderer europäischer Nationen Höhen und Tiefen aufweist. Genau ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des schrecklichsten aller Kriege in Europa gehört das hier behandelte Untersuchungsthema zusammen mit der deutschen Kriegs- und Besatzungspolitik in der Sowjetunion ab 1941 unverändert zu den dunkelsten und schmerzvollsten der gemeinsamen Vergangenheit beider Länder. Sein Schwerpunkt liegt auf einer Institution, deren -Geschichte, insbesondere die ihres Opfers und Sieges im Zweiten Weltkrieg, in der Sowjetunion über gut vier Jahrzehnte zu den Traditionen von großer politischer Integrationskraft gehörte. Mehr noch als die Kommunistische Partei war es vor allem die Armee, die in Struktur, Traditionsbildung und propagiertem Selbstverständnis das schlechthin Sowjetische im Sinne eines übernational verstandenen Staatspatriotismus repräsentierte. Dementsprechend idealisiert war über lange Zeit ihre offizielle Geschichte, in der Heroismus und Vorbildhaftigkeit (russ. primernost) dominierten, und die damit eine wichtige gesellschaftliche Funktion im Leben des Sowjetstaates erfüllte. Mit der Neubewertung der eigenen Geschichte im Zeichen der Perestrojka, insbesondere seit der 19. Parteikonferenz der KPdSU vom Sommer 1988, begann auch in Moskau der unwiederbringliche Abschied von den heroisierten Geschichtsbildern der Vergangenheit.
Mit dem Ende des Sowjetstaats und dem Zusammenbruch des Machtmonopols der Kommunistischen Partei sind inzwischen auch dort die früher als bürgerlich apostrophierten Maßstäbe der um Objektivierung bemühten westlichen Wissenschaft anerkannt und stehen in einem pluralistischen Wettbewerb mit traditionellen oder konträren Auffassungen. So steht zu hoffen, daß mit der in Moskau vorbereiteten Neubearbeitung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs auch der in dieser Studie behandelte Aspekt in der von ideologischer Bevormundung befreiten russischen Geschichtswissenschaft zu seinem Recht kommen wird. Die vorliegende Studie ist das Resultat eines in den Jahren 1989 bis 1992 von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen getragenen wissenschaftlichen Projektes unter dem Arbeitstitel "Die Rote Armee in Ostdeutschland". Leider war es zur damaligen Zeit nicht möglich, für das politisch wie psychologisch gleichermaßen heikle Thema Moskauer Archive zu benutzen, was zweifellos zu bedauern ist, jedoch angesichts der damaligen archivrechtlichen Situation in Rußland wie aufgrund des zur Verfügung stehenden materiellen Rahmens von vornherein in Kauf genommen werden mußte.