Call for Papers
33. Kolloquium zur Polizeigeschichte
Dresden, 04.-06.07.2024
Nothilfe, Fürsorge, Krisenmanagement und Gewaltmonopol: Das Polizieren von Aus-nahmezuständen und die Institutionalisierung öffentlicher Ordnungen von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart
Das Kolloquium zur Polizeigeschichte trifft sich seit 1990 einmal jährlich und stellt ein interdisziplinäres Diskussionsforum für neuere polizeihistorische Forschungen dar. Wesentliches Ziel des Kolloquiums ist es, insbesondere jüngeren Wissenschaftler:innen die Möglichkeit zu bieten, ihre Forschungsergebnisse zu präsentieren und zu diskutieren. Das 33. Kolloquium zur Polizeigeschichte findet vom 4. bis 6. Juli 2024 an der Technischen Universität Dresden statt. Veranstaltet wird die Tagung vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden und dem Institut für Geschichte der TU Dresden.
Ersthelfer, die beim Eintreffen am Unfallort von Schaulustigen behindert und angegriffen werden, Feuerwehrkräfte, die beim Eintreffen am Einsatzort ein Bombardement mit Flaschen und Pyrotechnik erwartet, aber auch Polizistinnen, die, wegen einer banalen Ruhestörung herbeigerufen, ohne Weiteres physisch angegriffen werden – immer häufiger berichten die Betroffenen selbst, aber auch die Medien von derartigen Ereignissen. Hier stellen biedere „Normalbürger“ und „-bürgerinnen“ ihre Missachtung von Zuständigkeiten und Kompetenzen von Mitmenschen und Institutionen zur Schau, auf deren Einsatz das Gemeinwesen angewiesen ist und die stetig zur praktischen Legitimierung des modernen Sozialstaats beitragen. Gleichzeitig werden polizeiliche Gewaltpraktiken im Kontext von Rassismus und politischer Parteinahme kritisch diskutiert.
Vor dem Hintergrund solcher Beobachtungen in der Gegenwart widmet sich das 33. Kolloquium zur Polizeigeschichte dem Thema „Nothilfe, Fürsorge, Krisenmanagement und Gewaltmonopol: Das Polizieren von Ausnahmezuständen und die Institutionalisierung öffentlicher Ordnungen von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart“.
Die Entwicklung westeuropäischer Polizeien zu den uns heute so selbstverständlichen „öffentlichen Anstalten“ moderner Staaten gründete von Beginn an auf der doppelten Aufgabe der Herrschaft über Subjekte und der Aufrechterhaltung sicherer Zustände im Innern. In der Frühen Neuzeit war die Wahrnehmung dieser Aufgaben jenseits der eigenmächtigen ‚selbst-hülfe‘ über ein weitverzweigtes Geflecht lokaler Ämter und landesherrlicher Gewalten verteilt. In einem langen Übergangsprozess der institutionalisierten Stabilisierung von Ordnungsansprüchen etablierten sich in Europa schließlich auf das Monopol staatlicher Gewalt gegründete Exekutivorgane. Sie führten beides, Exekutive politische Herrschaft und auf die öffentliche Sicherheit ausgerichtete Gefahrenabwehr, zusammen und integrierten darin auch neue Traditionen der ‚bürgerlichen‘ Selbsthilfe auf der Grundlage von Freiwilligkeit und Ehrenamt.
In Situationen existenzbedrohender Gefahren erweist sich die Unverzichtbarkeit gemeinsamen Handelns. Es gilt, die akut gegebene Not zu wenden, Mitmenschen in Not Sorge ange-deihen zu lassen, im Extremfall auch die Lebensfähigkeit des Gemeinwesens insgesamt zu sichern. Erforderlich sind dabei die Mobilisierung und Konzentration außerordentlicher logistischer wie auch sozialer Ressourcen. Das ist nur durch koordiniertes und zugleich autoritativ geleitetes Zusammenwirken zu bewerkstelligen. Vorübergehend sind Routinen, Privilegien und Gewohnheitsrechte außer Kraft zu setzen. Zugleich ermöglichen diese Situationen und „Lagen“ verschiedenen Akteuren, spezifische Ordnungspraktiken zu kommunizieren und daraus Normen und Geltungsansprüche einer ‚guten Polizey‘ abzuleiten, die über den Horizont des Ausnahmezustandes hinausweisen.
Historische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen über die Bedeutung von „Ausnahmezuständen“ stellen bisher weit überwiegend die Wiederherstellung der Sicherheit politischer Ordnungen und (Vor-)Rechte in den Mittelpunkt: Das Versprechen von „Ruhe und Ordnung“ war in politischen Ausnahmezuständen immer wieder entscheidend für die (Re)Legitimierung staatlicher Gewalt, gleich ob demokratische oder autokratische Ordnungen dies für sich in Anspruch nahmen und noch immer nehmen.
Im Gegensatz dazu werden auf dem 33. Kolloquium zur Polizeigeschichte die Bewältigung der hier in aller Vorläufigkeit als „nicht-politische“ bezeichnete Notlagen und Ausnahmezuständen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Ob es sich um Hungersnöte, Brand- und Flutwasserkatastrophen, Epidemien und Ungezieferplagen, Industrieunfälle und Umweltkatastrophen, oder auch um alltägliche, unmittelbares Eingreifen erfordernde, Unfälle und Notsituationen handelt – immer waren und sind in diesem Geschehen Not-Helfer und -Helferinnen aktiv. Sie berufen sich dabei auf einen öffentlichen Auftrag, ein Amt, eine Befugnis, was in der Regel auch von den Hilfsbedürftigen akzeptiert wird. Zugleich kommunizieren diese Geltungsansprüche die Sinnhaftigkeit institutionalisierter Normen und Ordnungen. Welche Bedeutung hatten und haben Praktiken dieser Not-Hilfe für die Etablierung des modernen, verfassungsrechtlich eingehegten staatlichen Gewaltmonopols und ihrer im Alltag bedeutendsten Repräsentantin, der öffentlichen Polizei? Trugen sie zu ihrer Legitimität und Stabilisierung bei, und wenn ja, wie? Und waren solche Entwicklungen für Europa spezifisch bzw. welche Rolle spielten und spielen Praktiken der kollektiven Nothilfe in außereuropäischen Gesellschaften?
Wir suchen für das 33. Kolloquium für Polizeigeschichte Beiträge, die – für die Frühe Neuzeit, das 19. und 20. Jahrhundert oder die jüngste Gegenwart oder auch in einer longue-durée-Perspektive – verschiedenen Aspekten der Entwicklung von Polizei, Sicherheit und moderner Staatlichkeit gewidmet sind (ohne Anspruch auf Vollständigkeit!):
- Szenarien des Polizierens von Notlagen und Krisen
- Freiwilligkeit und Altruismus, Seelsorge und psychologische Betreuung: Die emotionsgeschichtliche Komponente von Not-Hilfe, Fürsorge und Krisenmanagement
- Ausnahmezustände und (konkurrierende) Kommunikationen gesellschaftlicher Bedrohungslagen und ihre Bedeutung für die Institutionalisierung von Ordnungsansprüchen
- Nothilfe, Fürsorge und Krisenmanagement und die lange Herausbildung des modernen, „negativen“ Polizeibegriffs (Gefahrenabwehr)
- Autokratie vs. Demokratie: Wirkungen des politischen Systems auf das Polizieren von Notlagen und Katastrophen
- „nicht-politische“ Notlagen (Epidemien, Naturkatastrophen, Versorgungskrisen) und ihre Wechselwirkungen mit politischen Ausnahmezuständen
- Bürgerlicher „Eigen-Sinn“ oder nihilistische Staatsverneinung? Konfigurationen der invektiven Negation öffentlicher Sicherheits- und Hilfeleistungen
Wir freuen uns über Beiträge aus der frühneuzeitlichen bis zur Gegenwartsgeschichte. Höchst erwünscht sind Beiträge zur Geschichte nicht-deutschsprachiger und nicht-europäischer Regionen und Länder sowie auch aus Nachbardisziplinen.
Die Beiträge werden als mündliche Vorträge von 20 Minuten Dauer präsentiert, sehr gerne mit Einsatz von Powerpoint und Medienbeispielen. Bei der Zusammenstellung des Programms wird empirisch argumentierenden und quellengestützten Fallstudien gegenüber allgemein-konzeptionell gehaltenen Erörterungen und reinen Projektvorstellungen der Vorzug gegeben. Promovierende und Postdocs werden ausdrücklich ermuntert, aus ihren laufenden Vorhaben zu berichten.
Neben den Themensektionen ist wie immer auch eine offene Sektion vorgesehen, in der aktuelle Forschungsergebnisse zur Polizeigeschichte vorgestellt werden können.
Bitte senden Sie Ihren Vorschlag (maximal 3.000 Zeichen einschl. Leerzeichen) in deutscher oder englischer Sprache zuzüglich Kurz-CV und ggf. einem Verzeichnis mit maximal 5 einschlägigen Publikationen bis spätestens 15. Februar 2024 an die Adresse KPG2024@tu-dresden.de. Reise- und Übernachtungskosten für Referentinnen und Referenten werden aller Voraussicht nach vom HAIT e.V. bzw. der Professur für Totalitarismusforschung an der TU Dresden übernommen.
© W. Benton - National Library of Wales (Wikipedia