Jugend und Hitlerjugend im Nationalsozialismus
Diktaturforschung / Forschungsfeld
Herrschaft und Gesellschaft / Forschungsschwerpunkt
(Projekt abgeschlossen)
Dr. André Postert / Koordination
PROJEKTBESCHREIBUNG
In die kollektive Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich ein Bild fest eingebrannt: Der Hitlerjunge in Uniform Augen, ausgerüstet mit Panzerfaust oder Sturmgewehr, der in den letzten Kriegstagen seinen Glauben an das Hitler-Regime gegen vorrückende Alliierte noch fanatisch verteidigt. Aus Filmen und Fernsehdokumentationen sind diese Szenen einem breiten Publikum geläufig. Tatsächlich hatte das NS-Regime Anfang 1945 im Rahmen des „Dritten Volkssturms“ selbst Jugendliche ab 15 Jahren vielerorts als „Vernichtungstrupps […] zur Verteidigung von ortsfesten Unterkünften und Sperren“ einzusetzen versucht. Reichsjugendführer Artur Axmann rekrutierte Jugendliche für den „Kampf um Berlin“, Himmler hoffte auf sogenannte Werwölfe als „letzte Blutreserve“ im Rücken des Feindes. Eine ganze Generation junger Menschen sei in der Hitlerjugend erfasst, indoktriniert und – Begriffe, bei denen Vorsicht geboten bleibt – verführt, getäuscht und betrogen worden. Es lasse sich kaum bestreiten, so Michael Kater, „dass es der Hitler-Jugend, zuerst unter [Reichsjugendführer] Schirachs wachsamen Augen und dann unter Axmann, gelang, den bei weitem größeren Teil der deutschen Jugend […] unter ihre Fittiche zu bekommen.“ Karl Heinz Jahnke, der sich mit zwei dokumentarischen Quellenbänden um die Erforschung der Hitlerjugend verdient gemacht hat, urteilte, der Einfluss langjähriger NS-Erziehung habe so nachhaltig gewirkt, dass der deutschen Jugend „eine wachsende Rolle für die Fortsetzung des Krieges“ zugefallen sei, ja sie den „Endkampf“ mit allen Konsequenzen gar erst wesentlich ermöglichte.Zugleich ist die Vorstellung einer „Hitlerjugend-Generation“, die dem Regime geschlossen gefügig und hörig gewesen sei, in den letzten Jahren doch mehr und mehr in Frage gestellt geworden. „Hört man aber den einzelnen genau zu, dann bekommt man Zweifel am totalen Zugriff des Regimes, dann bekommt der geschlossene nationalsozialistische ‚Käfig‘, in dem diese Jugend angeblich eingesperrt war, Bruchstellen“, konstatierte Margarete Dörr in Hinblick auf Zeitzeugeninterviews. Eine Reihe jüngerer Studien hat sich in neuester Zeit zudem mit dem Phänomen der Jugendopposition bzw. des abweichenden und eigensinnigen Jugendverhaltens in der Zeit des Nationalsozialismus intensiv befasst: Neben bekannten Beispielen wie der „Weiße Rose“, den Edelweißpiraten aus dem Rhein- und Ruhrgebiet, den Swing-Kids in Norddeutschland oder den „Schlurfs“ in Wien sind neuerdings jugendliche Cliquen aus dem Arbeitermilieu sowie subkulturelle Strömungen wie „Mobs“ und „Meuten“ im mittel- und ostdeutschen Raum in den Fokus gerückt. Alfons Kenkmann, der sich 1998 in seinem Buch der „wilden Jugend“ des Ruhrgebiets zwischen Weltwirtschaftskrise und Währungsreform widmete, kam mit Blick auf die Kriegszeit zu der Einschätzung, die Hitlerjugend habe ideologisch und strukturell weitgehend versagt, zumindest gemessen am eigenen Anspruch. Keinesfalls habe das NS-Regime den Alltag junger Menschen vollständig kontrollieren, durchdringen und beherrschen können. Die Strukturen der NS-Nachwuchsorganisationen seien labil und ihre Möglichkeiten begrenzt gewesen. Die verschiedenen Einschätzungen über den Einflussgrad und die organisatorische Reichweite der Hitlerjugend stehen sich auf diese Weise in der Historiographie einander oft diametral und widersprüchlich entgegen; es präsentiert sich jeweils ein anderes Bild, je nachdem ob man eine (ältere) Studie über die Hitlerjugend oder (neuere) Studien zu jugendlichen Sub- und Gegenkulturen im „Dritten Reich“ heranzieht und befragt.
Mit dem Forschungsprojekt „Jugend und Hitlerjugend im Nationalsozialismus“ ist die Aufgabe gestellt, diese historiographischen Widersprüche in einer neuen Geschichte und Monografie der Hitlerjugend aufzulösen. Dabei wird insbesondere auf Selbstzeugnisse, Interviews und auf private Quellen zurückgegriffen sowie auf archivalische Materialien aus Stadt- und Kreisarchiven, die einen Zugriff auf lokale und regionale Strukturen erlauben. Herangezogen werden insbesondere Befehls- und Anordnungsblätter der Hitlerjugend, also Quellenmaterialien, die für den Innendienst bestimmt waren, um etwaige Probleme, organisatorische Herausforderungen vor Ort und „Lücken im Käfig“ der NS-Nachwuchsorganisation beleuchten und benennen zu können. Junge Entscheidungsträger in der Parteijugendorganisation und der alltägliche Dienst von Kindern und Jugendlichen in der Hitlerjugend zwischen 1933–1945 rücken in das Zentrum der zu erarbeitenden Studie. Meist ist die Geschichte der Hitlerjugend von der Spitze der Organisation aus erzählt worden. Der Reichsjugendführung in Berlin, gegründet im März 1933, fiel in der Zeit der Diktatur die Aufgabe zu, die deutsche Jugend im Sinne des Regimes zu erziehen. Die Hitlerjugend war ihr organisatorisches Instrument. Die Politik der RJF hat Michael Buddrus mit einem wissenschaftlichen Monumentalwerk, welches zu Recht als neues Standardwerk gelten darf, aufgearbeitet. Vergleichsweise selten ist in Studien zur Hitlerjugend der Frage nachgegangen worden, wie weit die Politik der RJF jedoch in die Wirklichkeit der Hitlerjugend und in den Alltag junger Menschen tatsächlich hineinreichte. Hier wird der bisherigen Forschungsliteratur über die Hitlerjugend eine dezidierte Perspektive „von unten“ gegenübergestellt. Es gilt, den Anspruch der RJF mit den lokalen Realitäten und der (widersprüchlichen) Alltagswirklichkeit von Heranwachsenden im Nationalsozialismus abzugleichen.